Die Auswüchse der Agilität

Im ersten Teil meiner Blogreihe zum Thema Agilität schrieb ich schon, dass viele Unternehmen davon so weit entfernt sind, wie der eine Rand des Grand Canyon vom anderen. Heute geht es darum, was passiert, wenn die Agilität sonderbare Auswüchse bekommt. Denn was die „Oberagilisten“ in Wahrheit wollen: Bewerten, Kontrollieren, Stempel für agile Teams verteilen. Und das treibt bisweilen die herrlichsten Blüten.

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Ein Teamleiter wurde bei der Geschäftsführung vorgeladen zu einem Qualitätsgespräch. Es ging darum, ob sein Team nun agil ist oder nicht. Nach der Anhörung wurde er rausgeschickt, die Chefrunde stimmte danach darüber ab, ob man den Agilitätsstempel denn jetzt schlussendlich verleiht oder nicht. Aber erst nachdem der Chef seine Meinung kundgetan hatte, stimmte der Rest mit einer Verzögerungssekunde mehrheitlich genauso ab. Fertig.  Allein dieser Abstimmungsvorgang ist so skurril und so dermaßen und vollkommen unagil, dass es zum Lachen ist. Das ist in etwa so absurd, wie wenn der Despot eines Landes in einer einsamen Entscheidung bestimmt, dass das von ihm beherrschte Land ab sofort offiziell als „demokratisch“ zu gelten habe – ein Widerspruch in sich. Das Team selbst war von dem vorangegangene Bewertungsprozess mittlerweile so frustriert, dass dessen Mitgliedern schon völlig egal geworden war, was die da oben sagen, ob sie diesen Stempel kriegen oder nicht: „Wir arbeiten eben so, wie wir arbeiten, ob wir das jetzt offiziell in unserem Unternehmen agil nennen dürfen oder nicht. Die können uns mal gernhaben!“ Der größte Witz an der ganzen Affäre war dann noch, dass bereits vom Chefgremium abgesprochen und festgesetzt worden war: Dieses Team wird das erste agile Team sein, egal was bei der „Prüfung“ rauskommt. Und wenn sie ihren Namen getanzt hätten, sie hätten den Stempel sowieso bekommen, denn alle wollten sich ja mit der Agilität schmücken.
Das ist halt einfach nur: Blödsinn!

Steckengeblieben – wenn die Maske der Agilität fällt und die Transparenz darunter ihr Gesicht zeigt

Wenn solche Spielchen aufgedeckt werden, wird einer aufgesetzten und nicht gelebten Agilität die Maske heruntergerissen. Denn an diesen Punkt müssen alle Beteiligten die Hosen runterlassen: Transparenz ist einer der grundlegenden Werte von Agilität. Und die schließt all den Mumpitz wie Hidden Agendas, inoffizielle Abstimmungen und gezielte Informationssperren aus. Das geht nicht zusammen. Entweder das eigene Süppchen kochen oder gemeinsam im Team die Wertschöpfung vorantreiben. Und die meisten Unternehmen bleiben im Entweder stecken. Auch wenn sie sich dick und fett „agil“ auf die Fahnen schreiben.
„Seid ihr irre?“, platze ich heraus.Ich sitze bei einem meiner Kunden und blättere gerade dessen auf Hochglanz polierten Präsentationsfolien für die nächste Mitarbeiterversammlung durch. Glücklicherweise kennt er mich, er kann mit meiner offenen Art umgehen.
„Was meinst du?“, fragt er.
Ich zeige auf diesen Satz auf der Folie: WIR WOLLEN UNSERE GEHÄLTER IN ZUKUNFT IM TEAM VERHANDELN.
Er liest und schaut mich verständnislos an: „Wieso? Das gehört doch bei Agile dazu, oder?“
Ich frage zurück: „Weißt du, wie weit Unternehmen und Mitarbeiter sein müssen, bevor sie anfangen können, in einer großen Gruppe ihre Gehälter zu verhandeln? Und übrigens: Das bedeutet auch, dass ihr Führungskräfte eure Gehälter dann auch offenlegen müsstet?“
Upps!
Transparenz kennt keine Hierarchie-Grenzen. Und genau daran scheitern aktuell viele Versuche, Unternehmen auf Agilität umzustellen.
Das agile Gehabe ist nämlich das perfekte Intransparenz-Vernebelungs-Instrument. Klar ist es möglich, agile Tools in hierarchische Systeme einzuführen: Retrospektiven, Dailies etc. Das fühlt sich modern an, sieht schick aus und macht was her. Nur nützt es nichts.
Agile Instrumente entfalten ihre Wirkung erst dann richtig, wenn auch agile Werte gelten. Sonst hat jeder Mitarbeiter sofort das Gefühl: Aha, mein Chef will mich noch engmaschiger überwachen. Die Tools werden nicht als Unterstützung wahrgenommen, um sich gegenseitig zu helfen, sondern als Kontrolle.
Endgültig bestätigt werden die Mitarbeiter in ihrem Misstrauen, wenn sie angehalten sind, ab heute Transparenz in allen Lebenslagen zu pflegen. Nur auf die Idee kommen, die Transparenz auch von ihrer Führungsriege einzufordern, sollen sie bitte schön nicht: Wie? Sie wollen wissen, was Ihr Chef verdient? Und sich womöglich in aller Öffentlichkeit Gedanken darüber machen dürfen, ob er das Geld auch wert ist? Das geht dann doch zu weit.
Spätestens dann kratzt sich der geneigte Mitarbeiter ratlos am Kopf. Und kommt zu dem Schluss: Der Schlauch ist neu. Aber es scheint doch nur der alte Wein drin zu sein.

Vorsicht: Transformationsgefahr

Ich sage nicht, dass jedes Unternehmen sich von heute auf morgen auf 100% Agilität umkrempeln muss. Das ist unmöglich. Es ist vollkommen in Ordnung, sich Schritt für Schritt in die neue Welt vorzutasten. Eigene Erfahrungen zu sammeln. Experimente zu machen und daraus zu lernen.
Bei was ich dagegen die Krätze kriege, ist, wenn diese Firmen mit stolz geschwellter Brust behaupten, ein durch und durch agiles Unternehmen zu SEIN. Ab heute. Per Dekret.
Und gleichzeitig weiter die Macht bei den alten Hierarchien liegt. Wenn Information die Währung für den internen Erfolg bleibt und entsprechend sorgsam gehütet wird. Wenn Entscheidungen weiter hinter den Kulissen ausgehandelt werden und Einzelinteressen die gemeinsame Lösung bestimmen.
Für Agilität müssen gerade die etablierten Akteure im System „Unternehmen“ viele alte Rezepte verlernen. Oft sind das genau die, die aktuellen Entscheider in die Position gebracht haben, wo sie heute sitzen: an den Schalthebeln der Macht.
Die meisten von ihnen sitzen sehr gerne dort. Es ist Teil ihres Selbstverständnisses geworden.
Das ist ein Riesenprozess, den die Führungskräfte von heute durchlaufen müssen, um „agil“ zu werden. Und beginnen müssen sie bei sich selbst. Das kostet Kraft. Und bedarf eines starken inneren Antriebs. Sie brauchen also eine ziemlich gute Motivation, um eine agile Transformation anzustoßen und durchzuziehen, die diesen Namen auch verdient.
Der agile Anstrich dagegen ist die viel leichtere Übung. Auch wenn jeder Mitarbeiter nach kürzester Zeit merkt: Da passt doch was nicht.
Der Flurschaden, der beim Missbrauch des Wortes „Agilität“ gerade landauf, landab angerichtet wird, ist immens: Denn jedes Unternehmen, das es auf diese Weise versucht hat, wird nach kurzer Zeit alle Maskerade wieder über den Haufen werfen. Nur leider die Agilität gleich mit. Ganz nach dem Motto: Haben wir probiert. Funktioniert nicht.
Sollten Sie in Ihrer Organisation oder in Ihrem Unternehmen hinsichtlich einer zielführenden Einführung von Agilität Unterstützung benötigen, melden Sie sich gerne bei mir – gemeinsam finden wir einen Weg aus der alten Organisations-/Unternehmenskultur in eine neuere und agile.